„Al Qaida No Limits“

Als unscheinbar und normal werden die meisten islamistischen Attentäter geschildert. Aber die These vom „unsichtbaren Schläfer“ hat nie gestimmt.

VON DIRK LAABS

Marwans Mutter ist verzweifelt. Wochenlang hat sie nichts mehr von ihrem Sohn in Deutschland gehört. Beim letzten Telefonat hatte er heftig mit seinem Bruder daheim in Ras Al Khaymah gestritten. Marwan wehrte sich gegen die ewigen Vorwürfe, er studiere nicht ernsthaft und kümmere sich nur noch um die Religion. Als er nicht einmal mehr zu Beginn des Ramadan anruft, wendet sich die besorgte Mutter an das Konsulat der Vereinigten Arabischen Emirate. Die Polizei wird eingeschaltet, doch auch die findet den Studenten nicht. Daraufhin fliegt Marwans Bruder selbst nach Hamburg und sucht in den Moscheen, dort, wo der Vermißte all seine Zeit verbracht haben soll. Gerüchteweise heißt es, Marwan kämpfe in Tschetschenien. Dann plötzlich, Ende Januar 2001, meldet sich der verlorene Sohn bei seiner Familie: Alles sei in Ordnung, er studiere weiterhin Schiffbau in Hamburg, habe eine schwere Zeit überstanden, sehe jetzt aber "Licht am Ende des Tunnels". Detaillierter will er sich nicht äußern. Tatsächlich lebt Marwan al-Shehhi seit Monaten in Amerika und lernt, wie man Passagierjets fliegt. Am 11. September lenkt er eine Boeing 767 in den Südturm des World Trade Centers in New York. Die Medien werden ihn als fröhlichen, freundlichen Mann beschreiben. Rein gar nichts habe hingewiesen auf die Tat.

Unscheinbar und normal - die meisten islamistischen Attentäter werden von ihren Nachbarn und Kollegen, von Lehrern, Vorgesetzten und anderen flüchtigen Bekannten auf diese Weise beschrieben. Ermittler und Experten wissen seit dem 11. September: Die Zeugen liegen falsch. Die These vom unsichtbaren "Schläfer" stimmte nie. Wie im Fall Marwan al-Shehhis trifft das Gegenteil zu. Familie, Freunde und Glaubensbrüder bemerken zunächst, daß die späteren Attentäter sich verändern, daß sie religiöser werden und sehr stolz auf ihren strengen Glauben sind. Oft fallen radikale Meinungen im Unterricht, bei der Arbeit oder zu Hause auf, die Männer verteidigen etwa Selbstmordattentate oder den Holocaust. Einer der späteren Attentäter von London kritzelte auf sein Schulbuch: "Al Qaida No Limits". Sein Komplize versuchte, Mitspieler seiner Cricketmannschaft für den Heiligen Krieg zu rekrutieren. Viele Islamisten drängen andere, endlich ebenfalls bessere Muslime zu werden. Sie stellen immer extremere Forderungen, etwa: Deine christliche Frau muß konvertieren, sonst verstoße ich dich. Schließlich isolieren sich die späteren Attentäter mehr und mehr, minimieren den Kontakt zu ihrem alten Umfeld. Und schlagen dann zu.

Das ist das Muster. Hunderte Biographien von Islamisten und Attentätern haben die Profiler seit dem 11. September analysiert. Der forensische Psychiater und ehemalige CIA-Analyst Marc Sageman allein hat 500 Fälle studiert. Sein Fazit: Es gibt zwar kein soziales Schema, das für alle Täter gelten würde - unter ihnen befinden sich verheiratete Väter, ledige Studenten, Arbeitslose und ehemalige Drogendealer. "Doch alle Männer machen eine vergleichbare Entwicklung durch", so Sageman. Dieser Prozeß läßt sich inzwischen rekonstruieren.

Am Anfang steht der Gang in die Moschee oder die Gebetsräume einer Universität. Nicht, um sich einer Terrorzelle anzuschließen, wie Sageman erklärt: "Die suchen Freunde, weil sie Heimweh haben oder sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen." Oft gehe es anfangs nicht einmal um Religion. Spätere Terroristen fallen nicht plötzlich aus dem Leben - sie sind nie in ihrer alten oder neuen Heimat angekommen, sie stehen nach Schule oder Universität an einer Schnittstelle im Leben. Und sie sind auf der Suche.

In der Moschee finden die jungen Männer nicht nur Freunde, sondern entdecken bald auch den Islam für sich. Er garantiert ihnen Halt, Struktur, Orientierung in einer Welt, die unsicher scheint. "Sie finden die stärkste Gewißheit, die es gibt - Religion. Sie gibt jedem Detail deines Lebens Bedeutung. Du wachst morgens früh auf, um das Morgengebet nicht zu verpassen; alles ist durchgeplant. Es gibt keinen Moment, in dem du nicht weißt, was zu tun ist. Das gibt dir das intensive Gefühl, ein erfülltes, sinnvolles Leben zu führen", erklärt der ägyptische Koranwissenschaftler Abu Nasr Zayd, der einst selbst den radikalen Muslimbrüdern nahestand.

Im Exil spüren die jungen Gläubigen zum ersten Mal, daß die Muslime eine Weltgemeinschaft sind, denn in der Fremde "ist es plötzlich etwas Besonderes, ein Muslim zu sein", so Abu Nasr: "Außerdem lassen dich die Menschen in deiner Umgebung spüren, daß du ein Muslim bist, ob du gläubig bist oder nicht." Jedem Strenggläubigen wird in der Moschee zudem sofortiger Respekt entgegengebracht. Egal, ob man arbeitslos, Student, Taxifahrer oder Kaufmann ist - je mehr man betet, je strenger man fastet, je mehr man über den Koran weiß, desto anerkannter ist man in der Gemeinde. Dieser Respekt kann wie eine Droge wirken.

Bald wollen die Nachwuchs-Islamisten nur noch unter ihresgleichen sein und kehren den verwestlichten Muslimen den Rücken. In den radikalen Moscheen wird ständig gepredigt: Die Muslime seien Opfer, es müßten sich Kämpfer finden, sie zu verteidigen. Propagandavideos und Darstellungen im Internet vertiefen diese Botschaft. Je aussichtsloser die Lage der Muslime im Irak und Libanon dargestellt werden kann, desto schneller droht die Radikalisierung.

Die Imame in diesen Moscheen bieten schließlich eine verlockende Perspektive: Die versammelten Gläubigen könnten Auserwählte sein, predigen sie - wenn sie es denn nur wollten. Sie könnten sofort zu Allahs Kriegern werden, die das Unrecht an den Muslimen in aller Welt rächen. Diese neue Generation von Imamen lehrt den "Dschihad des Verlangens" - jeder muß selbst wissen, wann er in den Heiligen Krieg zieht, kein Prediger und keine Regierung entscheidet für ihn. Die jungen Islamisten können sich also selbst für den Dschihad rekrutieren. Für Menschen aus arabischen Gesellschaften, in denen der Vater, der Chef oder Lehrer alles entscheidet, hat dieser freie Wille einen gewaltigen Reiz. Damit einher geht das Machtgefühl, als Soldat Allahs wichtig zu sein. "Was könnte gewaltiger sein als das?" fragt der Koranwissenschaftler Abu Nasr.

Die verblüffende, eigentlich jedoch logische Erkenntnis: In vergleichsweise kleinen muslimischen Gemeinden - in Hamburg, Leeds, Münster oder Kiel - funktioniert dieser Ansatz besonders gut. Das Gefühl, eine kleine Gruppe Auserwählter unter lauter Ungläubigen zu sein, entsteht dort schneller. Und die Schwäche, eine Minderheit zu sein, wird zur Stärke. Mohammed Atta wären wohl unter 15 Millionen Muslimen in Kairo Zweifel gekommen, ob er wirklich ein Auserwählter ist. Aber in einer Gemeinde von hundert Gläubigen im Hamburger Bahnhofsviertel, inmitten einer sündigen, gottlosen Welt, kann diese Lehre ihre volle Wirkung entfalten.

Auf diese Weise isolieren und radikalisieren sich die späteren Attentäter weiter - und fallen auf, so der ehemalige CIA-Analyst Marc Sageman: "Um sich selbst in dem eigenen Glauben zu bestärken, muß man pausenlos anderen Menschen davon erzählen. Die Islamisten versuchen daher ständig, andere zu bekehren. Sie reden von nichts anderem - bis sich jeder außerhalb der Gruppe von den Mitgliedern abwendet, weil er es einfach nicht mehr hören kann. Also bleibt die Gruppe ganz bei sich, konzentriert sich nur noch auf sich selbst und blendet die Außenwelt mehr und mehr aus. Diese Männer machen eine Radikalisierung durch, die stetig eskaliert." Die Debatten werden hitziger, wahllos kommen mögliche Aktionen ins Gespräch - entweder man setzt sich jetzt ab. Oder man bleibt dabei. Einer, der die Gruppe um Mohammed Atta aus der Nähe erlebt hat, sagt: "Das war wie in einer Sekte. Die Diskussionen liefen immer gleich ab. Man dachte: Entweder die machen bald irgend etwas, oder die Gruppe läuft heiß und zerfällt."

Inzwischen greift das Bundeskriminalamt auch auf Erkenntnisse zurück, die man im Kampf gegen die RAF gewonnen hat. Eine Gruppendynamik, die eine isolierte Zelle in den Kampf treiben kann, ist für deutsche Profiler nichts Neues. Der Bremer Kriminologe Lorenz Böllinger hat die Lebensläufe von Linksterroristen jahrelang analysiert. Er ist überzeugt, daß ein Individuum niemals aus innerer Überzeugung heraus allein politische Gewalt anwenden könne, sondern daß "Zufälle darüber entscheiden, daß sich ein Individuum einer Gruppe anschließt und mit ihr abdriftet". Für den Selbsterhalt mußten sich auch die Linksradikalen immer weiter isolieren. Je stärker sie dann vom Staat angefeindet und zu Monstern gemacht wurden, desto mehr fühlten sich die Gruppenmitglieder in ihrer Mission bestätigt, die Gesellschaft umwälzen zu müssen. "Dieses Gefühl, gesandt zu sein, ähnelt dem Religiösen", so Böllinger.

Auch die Islamisten sind meist "kollektive Mörder", wie der ehemalige Geheimdienstler Sageman zustimmt - allein wäre kaum einer von ihnen in der Lage zu töten. So handelten die Täter aus Madrid, Leeds und Hamburg gemeinsam: "Es ist viel einfacher, diese Taten als Gruppe zu verüben. Wenn man sich den 11. September ansieht: jeweils fünf oder vier Männer pro Flugzeug. In Madrid haben sich sieben Täter gemeinsam in die Luft gesprengt. Da sitzen also sieben Männer an einem Tisch; einer in der Gruppe sagt: ,Heute ziehen wir es gemeinsam durch.` Und diese Männer sind deine besten Freunde. Willst du denen sagen: ,Legt schon mal los, ich komme dann später nach?`" Zumal die Männer aus ihrer Sicht aus "positiven Gründen" töteten, wie Sageman sagt - nicht aus Haß. Sondern für ihre Brüder, für die anderen Muslime.

"Nur weil eine Tat verrückt und sinnlos ist, heißt das doch noch lange nicht, daß die Täter verrückt waren und sinnlos handelten - das ist die große Ironie." Von den 500 radikalen Muslimen, deren Biographien der forensische Psychiater untersucht hat, waren nur drei Prozent psychisch gestört. Damit lägen die Islamisten unter dem Weltdurchschnitt, sagt Sageman: "Terroristen sind also sogar normaler als andere Menschen."

ISLAMISTEN AUS ENGLAND UND DEUTSCHLAND.

© Dirk Laabs 2012-14